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Dienstag, 11. Dezember 2007
Im Kopf der anderen
fridax, 19:59h
Unser Gehirn ist auf Zusammenleben geeicht. Die Zürcher Wissenschaftlerin Tania Singer will herausfinden, wie wir unser Einfühlungsvermögen trainieren können. Von Stefanie Schramm
Mit dem Ellbogen schiebt Tania Singer die Tür der Dozentenmensa auf, um ihr Tablett ins Freie zu bugsieren. »Ich brauch jetzt was Deftiges«, sagt die Professorin und lässt sich auf einen Stuhl in der Sonne fallen. Es ist ein warmer Herbsttag, von der Terrasse der Eidgenössischen Technischen Hochschule sieht man den Zürichsee und dahinter im Dunst die Berge. Noch drückt kein Nebel auf die Stimmung. »Ich bin ganz high«, schwärmt die Psychologin. Gerade ist sie von einer Konferenz in den USA zurückgekehrt. »Da waren so tolle Leute.« Das Thema der Tagung: soziale Emotionen.
Singer erforscht, wie Menschen im Miteinander ticken. Was machen Nervenzellen und Hormone, wenn wir uns in jemanden hineinversetzen, mit ihm fühlen? Und was geschieht im Hirn, wenn wir unfair behandelt werden, selbstlos verzichten oder auf Rache sinnen? »Am liebsten würd ich da reinkriechen«, sagt Singer und tippt sich an die Schläfe. Was in den Köpfen ihrer Probanden vorgeht, muss sie aus Daten aus dem Kernspintomografen schließen. Die Isolation in der Röhre ist aber keine soziale Situation. Deshalb lässt Singer ihre Testpersonen im Scanner über eine Datenleitung mit anderen spielen. »Im Spiel schlagen die Emotionen schnell hoch, vor allem wenn es um Fairness und Geld geht. Man muss sich nur mal ansehen, wie die Leute bei Monopoly ausflippen.«
Seit dem Frühjahr 2006 baut die Hirnforscherin mit vier Kollegen in Zürich das Zentrum für soziale und neuronale Systeme auf. Es ist eng mit dem Institut für Empirische Wirtschaftsforschung des Ökonomen Ernst Fehr verbunden. »Vorher hatte ich überhaupt nichts mit Wirtschaft zu tun, ich war immer eher kulturell interessiert: Schauspiel, Tanz, Gesang«, sagt Singer. Jetzt sitzt sie mit Betriebs-, Volks- und Finanzwirten im Fakultätsrat. »Die werden mir immer sympathischer, wir könnten gut zusammenarbeiten.« Interessant findet die Psychologin an den Forschungsergebnissen der Neuroökonomen vor allem, dass Menschen viel mehr kooperieren als gedacht, sie handeln nicht nur egoistisch. Die Professorin ist überzeugt: »Unser Hirn ist auf Zusammenarbeit geeicht.«
Sie fand heraus, dass das Gehirn viel stärker auf faire als auf unfaire Mitspieler reagiert und sich diese auch besser merkt. Der Anblick von Fairplay-Anhängern aktiviert zudem das Belohnungszentrum. »Die Probanden hatten Spaß an der Zusammenarbeit«, schließt Singer daraus. Ein möglicher Anreiz zur Kooperation könne unsere Fähigkeit sein, mit anderen zu fühlen – die Empathie. Was dabei im Kopf geschieht, zeigte sie am Beispiel Schmerz. Sie maß die Hirnaktivität von Frauen, während deren Partner mit leichten Stromstößen traktiert wurden. Es regten sich die Regionen, die auch bei der gefühlsmäßigen Verarbeitung von eigenem Schmerz anspringen: »Die Frauen fühlten mit.«
In ihrer Doktorarbeit hatte Singer sich noch ganz auf die Verhaltensforschung konzentriert. Sie untersuchte am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, ob auch sehr alte Menschen ihre Gedächtnisleistung durch Training verbessern können. »Was im Gehirn der Probanden passierte, wusste ich aber nicht. Das hat mir gefehlt«, erklärt sie. Für ihre Dissertation bekam sie die Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft und damit die Möglichkeit, im Ausland zu arbeiten – und auf die Hirnforschung umzusteigen. Die Wissenschaftlerin ging nach London und arbeitete fünf Jahre lang am Wellcome Department of Imaging Neuroscience und am Institute of Cognitive Neuroscience. Es war ein krasser Richtungswechsel für sie.
»Mir war am Anfang ziemlich mulmig«, erinnert sich die heute 37-Jährige. Doch der Wagemut lohnte sich. Die Fairplay- und die Schmerzstudie erschienen in den renommierten Fachzeitschriften Neuron und Science – an zwei aufeinanderfolgenden Tagen. »Da bin ich durch London gehopst«, erzählt Singer strahlend. Sie habe manchmal eine Antenne für Themen, die in der Luft liegen, sagt sie von sich. Das allein reiche aber nicht: »Man muss auch schnell genug sein, Forschung ist wie freie Marktwirtschaft.«
Von der Sonnenterrasse der ETH blickt Singer über die Dächer Zürichs. Banken und Versicherungen drängen sich um den Paradeplatz, den teuersten Ort im Schweizer Monopoly. Die Psychologin plant ein Empathietraining, das sie auch an Finanzleuten testen will. Davon gibt es hier genug. »Man könnte das statt Fitnesscenter machen, Training für den Emotionsmuskel«, sagt sie. Die Forscherin möchte zeigen, wie man die Empathiefähigkeit verändern kann und natürlich wie sich das Hirn dabei wandelt.
Dazu muss sie herauskriegen, wo dieser Emotionsmuskel sitzt und wie man ihn trainieren kann. Erkenntnis erhofft sie sich von buddhistischen Mönchen. »Die sind Empathieexperten. Sie können sich extrem schnell in starke Gefühlszustände hineinversetzen, das ist unglaublich«, sagt Singer. Sie schiebt die meditierenden Probanden in den Scanner und stellt ihnen Aufgaben: Jetzt 90 Sekunden lang bedingungslose Liebe empfinden, dann Normalzustand, dann 90 Sekunden Ekel; zunächst etwa 50 Prozent der maximal möglichen Abscheu, dann 100 Prozent.
In ihrem Büro öffnet Singer die Datei mit der Auswertung. Auf dem Computermonitor erscheinen Kurven, die die Hirnaktivität darstellen: Bei 100 Prozent Ekel ist der Ausschlag genau doppelt so hoch wie bei 50 Prozent. »Ich habe das selbst mal versucht, da war viel mehr Rauschen drin. So eine mentale Kontrolle habe ich einfach nicht.« Die Mönche rufen das geforderte Gefühl mit Meditationstechniken und bestimmten inneren Bildern auf. »Ein Proband stellte sich für Ekel ein chinesisches Klo vor, in das er immer tiefer hineingeht.«
Die Psychologin besucht selbst Kurse für Meditationstechniken. »Ich bin das Versuchskaninchen für das Empathietraining. Wenn ich es schaffe, das in meinen hektischen Alltag einzubauen, schafft das ein Manager auch.« Sie sei aber ohnehin ein recht empathischer Mensch: »Ich fühle oft stark mit, was andere fühlen.« Das liege vielleicht auch daran, dass sie ein Zwilling sei, ein eineiiger.
Mit ihrer Schwester, einer Professorin für experimentelle Radiokunst, hat sie einen Dokumentarfilm gedreht, über Resonanzphänomene. »Sie beschäftigt sich mit akustischen Resonanzen. Und Empathie, das ist Resonanz zwischen Menschen«, sagt Singer. Für die Aufnahmen luden die beiden auch einen Obertonsänger und den Übersetzer des Dalai Lama nach London ein – und ihren Vater, den bekannten Hirnforscher Wolf Singer. Er vertritt die Theorie, dass Nervenzellen, die verschiedene Bestandteile eines Sinneseindrucks kodieren, im gleichen Rhythmus feuern. Diese Synchronisierung verbinde Form, Farbe, Geruch, Geräusch zu einer Wahrnehmung. »Das ist Resonanz zwischen Zellen«, erklärt Tania Singer.
Dass sie in einem ähnlichen Feld arbeitet wie ihr Vater, fand sie lange Zeit schwierig. »Natürlich habe ich überlegt: Soll ich überhaupt in die Wissenschaft gehen, in die Höhle des Löwen?« Und als sie von der Psychologie in die Hirnforschung wechselte, rückte sie noch näher an das Arbeitsgebiet des Vaters. »Aber in London hat sich keiner darum geschert, das war sehr angenehm.« In Deutschland dagegen klebe das »Tochter von«-Etikett an ihr. Das nervt sie. »Ich wollte immer alles allein machen, und das habe ich auch getan. Ich habe jetzt mein eigenes Gebiet gefunden, damit ist das Thema erledigt.«
Singer packt ihre Handtasche, sie ist spät dran. Mit ihrer Doktorandin will sie ein Experiment an einer Schule im Zürcher Umland machen. Knapp erwischen sie den Bus. Da kommt der Anruf, eine der beiden Probandinnen fällt aus. »Dann spiele ich das Kind«, juxt die Psychologin und fängt an, sich Zöpfe zu flechten. Schnell wird sie wieder ernst und dröselt das Haar auf: »Geht natürlich nicht. »Dass ein Forscher an seinem eigenen Experiment teilnimmt, ist in der Wissenschaft absolut tabu.«
Bei dem Versuch geht es um die Kontrolle von Gefühlen. Zwei Kinder spielen am Computer ein Glücksspiel, auf dem Monitor rotieren drei Räder mit Symbolen. Die beiden sitzen in getrennten Räumen, auf ihren Bildschirmen werden aber das Foto und das Ergebnis des Gegners eingeblendet. Mal gewinnt der eine, mal der andere, mal beide. Die Probanden sollen sagen, wie sie sich jeweils fühlen und was das andere Kind wohl empfindet. »Um den anderen richtig einzuschätzen, muss man seine eigenen Gefühle ausblenden«, sagt Singer. Heute müssen die beiden Forscherinnen unverrichteter Dinge umkehren; ohne menschliches Gegenüber funktioniert das Experiment nicht.
Auf der Rückfahrt zur Universität blickt Singer aus dem Fenster der S-Bahn; in der Ferne scheint die Abendsonne aufs Gebirge. »An Zürich mag ich besonders die Berge, mit meinem Großvater war ich früher oft bergsteigen«, sagt sie. »Hier habe ich mehr Kraft als in London, ich sitze einfach nicht jeden Tag zwei Stunden lang in der U-Bahn.« Zurück im Institut, schließt Singer ihr Büro ab, Feierabend für heute. Die Professorin schwingt sich aufs Fahrrad und radelt zur Gesangsstunde.
(c) DIE ZEIT, 06.12.2007 Nr. 50
50/2007
Mit dem Ellbogen schiebt Tania Singer die Tür der Dozentenmensa auf, um ihr Tablett ins Freie zu bugsieren. »Ich brauch jetzt was Deftiges«, sagt die Professorin und lässt sich auf einen Stuhl in der Sonne fallen. Es ist ein warmer Herbsttag, von der Terrasse der Eidgenössischen Technischen Hochschule sieht man den Zürichsee und dahinter im Dunst die Berge. Noch drückt kein Nebel auf die Stimmung. »Ich bin ganz high«, schwärmt die Psychologin. Gerade ist sie von einer Konferenz in den USA zurückgekehrt. »Da waren so tolle Leute.« Das Thema der Tagung: soziale Emotionen.
Singer erforscht, wie Menschen im Miteinander ticken. Was machen Nervenzellen und Hormone, wenn wir uns in jemanden hineinversetzen, mit ihm fühlen? Und was geschieht im Hirn, wenn wir unfair behandelt werden, selbstlos verzichten oder auf Rache sinnen? »Am liebsten würd ich da reinkriechen«, sagt Singer und tippt sich an die Schläfe. Was in den Köpfen ihrer Probanden vorgeht, muss sie aus Daten aus dem Kernspintomografen schließen. Die Isolation in der Röhre ist aber keine soziale Situation. Deshalb lässt Singer ihre Testpersonen im Scanner über eine Datenleitung mit anderen spielen. »Im Spiel schlagen die Emotionen schnell hoch, vor allem wenn es um Fairness und Geld geht. Man muss sich nur mal ansehen, wie die Leute bei Monopoly ausflippen.«
Seit dem Frühjahr 2006 baut die Hirnforscherin mit vier Kollegen in Zürich das Zentrum für soziale und neuronale Systeme auf. Es ist eng mit dem Institut für Empirische Wirtschaftsforschung des Ökonomen Ernst Fehr verbunden. »Vorher hatte ich überhaupt nichts mit Wirtschaft zu tun, ich war immer eher kulturell interessiert: Schauspiel, Tanz, Gesang«, sagt Singer. Jetzt sitzt sie mit Betriebs-, Volks- und Finanzwirten im Fakultätsrat. »Die werden mir immer sympathischer, wir könnten gut zusammenarbeiten.« Interessant findet die Psychologin an den Forschungsergebnissen der Neuroökonomen vor allem, dass Menschen viel mehr kooperieren als gedacht, sie handeln nicht nur egoistisch. Die Professorin ist überzeugt: »Unser Hirn ist auf Zusammenarbeit geeicht.«
Sie fand heraus, dass das Gehirn viel stärker auf faire als auf unfaire Mitspieler reagiert und sich diese auch besser merkt. Der Anblick von Fairplay-Anhängern aktiviert zudem das Belohnungszentrum. »Die Probanden hatten Spaß an der Zusammenarbeit«, schließt Singer daraus. Ein möglicher Anreiz zur Kooperation könne unsere Fähigkeit sein, mit anderen zu fühlen – die Empathie. Was dabei im Kopf geschieht, zeigte sie am Beispiel Schmerz. Sie maß die Hirnaktivität von Frauen, während deren Partner mit leichten Stromstößen traktiert wurden. Es regten sich die Regionen, die auch bei der gefühlsmäßigen Verarbeitung von eigenem Schmerz anspringen: »Die Frauen fühlten mit.«
In ihrer Doktorarbeit hatte Singer sich noch ganz auf die Verhaltensforschung konzentriert. Sie untersuchte am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, ob auch sehr alte Menschen ihre Gedächtnisleistung durch Training verbessern können. »Was im Gehirn der Probanden passierte, wusste ich aber nicht. Das hat mir gefehlt«, erklärt sie. Für ihre Dissertation bekam sie die Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft und damit die Möglichkeit, im Ausland zu arbeiten – und auf die Hirnforschung umzusteigen. Die Wissenschaftlerin ging nach London und arbeitete fünf Jahre lang am Wellcome Department of Imaging Neuroscience und am Institute of Cognitive Neuroscience. Es war ein krasser Richtungswechsel für sie.
»Mir war am Anfang ziemlich mulmig«, erinnert sich die heute 37-Jährige. Doch der Wagemut lohnte sich. Die Fairplay- und die Schmerzstudie erschienen in den renommierten Fachzeitschriften Neuron und Science – an zwei aufeinanderfolgenden Tagen. »Da bin ich durch London gehopst«, erzählt Singer strahlend. Sie habe manchmal eine Antenne für Themen, die in der Luft liegen, sagt sie von sich. Das allein reiche aber nicht: »Man muss auch schnell genug sein, Forschung ist wie freie Marktwirtschaft.«
Von der Sonnenterrasse der ETH blickt Singer über die Dächer Zürichs. Banken und Versicherungen drängen sich um den Paradeplatz, den teuersten Ort im Schweizer Monopoly. Die Psychologin plant ein Empathietraining, das sie auch an Finanzleuten testen will. Davon gibt es hier genug. »Man könnte das statt Fitnesscenter machen, Training für den Emotionsmuskel«, sagt sie. Die Forscherin möchte zeigen, wie man die Empathiefähigkeit verändern kann und natürlich wie sich das Hirn dabei wandelt.
Dazu muss sie herauskriegen, wo dieser Emotionsmuskel sitzt und wie man ihn trainieren kann. Erkenntnis erhofft sie sich von buddhistischen Mönchen. »Die sind Empathieexperten. Sie können sich extrem schnell in starke Gefühlszustände hineinversetzen, das ist unglaublich«, sagt Singer. Sie schiebt die meditierenden Probanden in den Scanner und stellt ihnen Aufgaben: Jetzt 90 Sekunden lang bedingungslose Liebe empfinden, dann Normalzustand, dann 90 Sekunden Ekel; zunächst etwa 50 Prozent der maximal möglichen Abscheu, dann 100 Prozent.
In ihrem Büro öffnet Singer die Datei mit der Auswertung. Auf dem Computermonitor erscheinen Kurven, die die Hirnaktivität darstellen: Bei 100 Prozent Ekel ist der Ausschlag genau doppelt so hoch wie bei 50 Prozent. »Ich habe das selbst mal versucht, da war viel mehr Rauschen drin. So eine mentale Kontrolle habe ich einfach nicht.« Die Mönche rufen das geforderte Gefühl mit Meditationstechniken und bestimmten inneren Bildern auf. »Ein Proband stellte sich für Ekel ein chinesisches Klo vor, in das er immer tiefer hineingeht.«
Die Psychologin besucht selbst Kurse für Meditationstechniken. »Ich bin das Versuchskaninchen für das Empathietraining. Wenn ich es schaffe, das in meinen hektischen Alltag einzubauen, schafft das ein Manager auch.« Sie sei aber ohnehin ein recht empathischer Mensch: »Ich fühle oft stark mit, was andere fühlen.« Das liege vielleicht auch daran, dass sie ein Zwilling sei, ein eineiiger.
Mit ihrer Schwester, einer Professorin für experimentelle Radiokunst, hat sie einen Dokumentarfilm gedreht, über Resonanzphänomene. »Sie beschäftigt sich mit akustischen Resonanzen. Und Empathie, das ist Resonanz zwischen Menschen«, sagt Singer. Für die Aufnahmen luden die beiden auch einen Obertonsänger und den Übersetzer des Dalai Lama nach London ein – und ihren Vater, den bekannten Hirnforscher Wolf Singer. Er vertritt die Theorie, dass Nervenzellen, die verschiedene Bestandteile eines Sinneseindrucks kodieren, im gleichen Rhythmus feuern. Diese Synchronisierung verbinde Form, Farbe, Geruch, Geräusch zu einer Wahrnehmung. »Das ist Resonanz zwischen Zellen«, erklärt Tania Singer.
Dass sie in einem ähnlichen Feld arbeitet wie ihr Vater, fand sie lange Zeit schwierig. »Natürlich habe ich überlegt: Soll ich überhaupt in die Wissenschaft gehen, in die Höhle des Löwen?« Und als sie von der Psychologie in die Hirnforschung wechselte, rückte sie noch näher an das Arbeitsgebiet des Vaters. »Aber in London hat sich keiner darum geschert, das war sehr angenehm.« In Deutschland dagegen klebe das »Tochter von«-Etikett an ihr. Das nervt sie. »Ich wollte immer alles allein machen, und das habe ich auch getan. Ich habe jetzt mein eigenes Gebiet gefunden, damit ist das Thema erledigt.«
Singer packt ihre Handtasche, sie ist spät dran. Mit ihrer Doktorandin will sie ein Experiment an einer Schule im Zürcher Umland machen. Knapp erwischen sie den Bus. Da kommt der Anruf, eine der beiden Probandinnen fällt aus. »Dann spiele ich das Kind«, juxt die Psychologin und fängt an, sich Zöpfe zu flechten. Schnell wird sie wieder ernst und dröselt das Haar auf: »Geht natürlich nicht. »Dass ein Forscher an seinem eigenen Experiment teilnimmt, ist in der Wissenschaft absolut tabu.«
Bei dem Versuch geht es um die Kontrolle von Gefühlen. Zwei Kinder spielen am Computer ein Glücksspiel, auf dem Monitor rotieren drei Räder mit Symbolen. Die beiden sitzen in getrennten Räumen, auf ihren Bildschirmen werden aber das Foto und das Ergebnis des Gegners eingeblendet. Mal gewinnt der eine, mal der andere, mal beide. Die Probanden sollen sagen, wie sie sich jeweils fühlen und was das andere Kind wohl empfindet. »Um den anderen richtig einzuschätzen, muss man seine eigenen Gefühle ausblenden«, sagt Singer. Heute müssen die beiden Forscherinnen unverrichteter Dinge umkehren; ohne menschliches Gegenüber funktioniert das Experiment nicht.
Auf der Rückfahrt zur Universität blickt Singer aus dem Fenster der S-Bahn; in der Ferne scheint die Abendsonne aufs Gebirge. »An Zürich mag ich besonders die Berge, mit meinem Großvater war ich früher oft bergsteigen«, sagt sie. »Hier habe ich mehr Kraft als in London, ich sitze einfach nicht jeden Tag zwei Stunden lang in der U-Bahn.« Zurück im Institut, schließt Singer ihr Büro ab, Feierabend für heute. Die Professorin schwingt sich aufs Fahrrad und radelt zur Gesangsstunde.
(c) DIE ZEIT, 06.12.2007 Nr. 50
50/2007
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